Es geht noch
weiter nach Norden. Wir befinden uns jetzt 350
Kilometer nördlich des Polarkreises am fast im
Minutentakt kalbenden 200 Meter hohen
Eqi-Gletscher (Eqip Sermia). Mit einem
kleinen Motorboot sind wir fast fünf Stunden
unterwegs, früh von Ilulissat losgefahren, um
gegen Mittag vor der riesigen Abbruchkante des
Gletschers zu liegen. Ganz dicht heran können
wir nicht fahren. Das ist zu gefährlich, da auch
ein erfahrener Kapitän nicht vorhersehen kann,
wie groß der nächste Abbruch aus der
Gletscherwand und damit die nächste „Tsunamiwelle“
sein wird. So treibt das Schiff mit seinen gut
30 Passagieren etwa 800 Meter vor der
Gletscherwand. Immer wieder gehen große
Eisblöcke tosend zu Wasser. Es klingt fast wie
das Donnergrollen eines Gewitters. Nach zwei
Stunden legen wir am Port Victor an. Der kleine
natürliche Hafenplatz wurde nach dem
französischen Forscher benannt, der zwischen
1949 und 1953 von hier aus seine Expeditionen
über das Inlandeis startete.
Wir
verlassen das Schiff und steigen erst einmal
einige Meter steil bergan zur kleinen
Hüttensiedlung, die hier errichtet wurde. Bei
der Landung überwachen Mitglieder der Crew und
die Betreiber der Hütten aufmerksam die
Aktivitäten des Gletschers. Manchmal erreichen
die Wellen, die ein Eisabbruch verursacht, eine
Höhe von drei oder vier Metern. Dann muss das
Schiff
unverzüglich wieder hinaus in den Fjord
und den ‚Minitsunami‘ passieren lassen. Bei uns
bleibt alles ruhig. Die Hütten liegen in
ausreichendem Abstand vom Wasserspiegel über dem
Gletscher. Von hier aus kann man ungestört das
Naturschauspiel Eqip Sermia genießen. Mit wenig
Gepäck – für zwei Übenachtungen – beziehen wir
eine der spartanisch eingerichteten Hütten.
Wasser holen wir vom Außenanschluss des
Restaurants der (dänischen) Betreiber der Lodge.
Eine Wasserleitung vom höher gelegenen
Gletschersee versorgt uns mit Trink- und
Waschwasser. Auf Dusche und WC müssen die
meisten Gäste verzichten. Nur wer eine der vier
neuen „Komforthütten“ für deutlichen Aufpreis
bucht, kommt in den Genuss von Warmwasser
(Solaranlage) und WC. Nach dem
Zeltaufenthalt auf dem Inlandeis ist die
Hüttenausstattung aber für uns fast Luxus. Da
die Sonne den ganzen Tag auf das kleine Häuschen
scheint, wird es auch zur Schlafenszeit – von
Nacht will ich bei 24 Stunden Sonnenschein nicht
sprechen – nicht kalt.
Eine
erste kleine
Wanderung führt uns zur Holzhütte der
französischen Forscher, die sich allerdings in
einem Zustand des Verfalls befindet und weiter
gen Westen zu einem Sandstrand, wie man es ihn
sich schöner kaum vorstellen kann. Von einem Bad
ist allerdings dringend abzuraten. Nicht - oder
nicht nur – wegen der Wassertemperatur knapp
über 0 °C, sondern vor allem wegen der Gefahr
der Tsunamiwellen nach größeren Eisabbrüchen.
Über einen kleinen Hügel kehren wir zur
Hüttensiedlung zurück.
Am
nächsten Tag beginnen wir eine längere Wanderung
Richtung Inlandeis. Wir folgen der Spur der
französischen Expeditionen. Im wahrsten
Sinne des Wortes. Zwar gibt es eine Karte von
der Eqi-Region – kann man auch vor Ort erwerben
– markierte Wege findet man hier allerdings
nicht. Was blieb, ist die Spur der
Kettenfahrzeuge, mit denen die Victor-Männer
ihre Ausrüstung zum Inlandeis transportierten.
Dieser Spur folgen wir. Meist ist sie auch
deutlich zu sehen. Zumindest auf dem Hinweg. Die
Nutzung der erwähnten Karte empfehle ich
trotzdem. Sie ermöglicht eine gute Orientierung
im Gelände. Nach etwa 3,5 Stunden erreichen wir
die Talstation der ehemaligen Seilbahn, mit der
die Franzosen Ihr Equipment auf das Eis
beförderten. Reste der Bahn wurden an einem
Platz zusammengetragen und verrotten nur sehr
langsam im arktischen Klima. Auf das Inlandeis
wollen wir nicht. Waren wir ja schon. Der
Aufstieg wäre nicht unerheblich. Wir haben auch
schon über 500 Höhenmeter in den Beinen und den
Rückweg von über drei Stunden vor uns. Also
beschließen wir, bis in die Nähe des Gletschers
weiterzugehen, der den Ausfluss des Inlandeises
bildet. Ein schöner Rastplatz. Wären da nicht
die Mücken, die sich aus dem kargen Bewuchs der
arktischen Landschaft auf uns stürzen. Also
Picknick mit Mückennetz.
Auf dem Rückweg müssen wir uns mehrfach mir der
Karte orientieren und immer wieder umdrehen, um
die Kettenspur zu sehen. Der Weg ist nicht immer
ganz eindeutig im Gelände zu erkennen. Wir
verlaufen uns aber nicht und erreichen am
Nachmittag unsere Hüttensiedlung am
Eqi-Gletscher.
Am dritten Tag unternehmen wir eine letzte
Wanderung Richtung Abbruchkante des Eqip Sermia.
Da uns das Boot spätestens 14.00 Uhr zur
Rückfahrt aufnehmen soll, bleibt uns leider
nicht viel Zeit. Wir ersteigen die
Gletschermoräne und müssen dann allerdings die
Wanderung beenden, um noch in Ruhe einige Fotos
zu machen. Schließlich liegt der ebenso lange
Rückweg vor uns.
Bereits
auf der Hinfahrt nach Eqi hatten wir die erste
Begegnung mit
Buckelwalen. In einiger Entfernung zogen
mehrere der großen Säugetiere ihre Bahn. Aber
wir hatten die Hoffnung, auf einer der
angebotenen Walsafaris, den Tieren noch ein
Stück näher zu kommen. Die Hoffnung erfüllte
sich. Einige Seemeilen vor der Küste von
Ilulissat konnten wir einen Buckelwal
minutenlang unmittelbar neben unserem Boot
beobachten. Der Wal tauchte sogar mehrere Male
unter dem kleinen Schiff hindurch. Einigen
Gästen fuhr der Schreck dabei in die Glieder.
„Der ist nur neugierig“ beruhigte uns der
Kapitän. Das kam mir eher so vor, wie der Spruch
des Hundebesitzers: „Der will nur spielen“ (bevor
er in der Wade hängt). Schließlich tauchte der
Buckelwal ab. Schön zu sehen, wenn die
Schwanzflosse aus dem Wasser herauskommt und das
Tier dann steil nach unten schwimmt. Später
konnten wir in größerer Entfernung noch mehrere
Wale beobachten. Ein wirklich beeindruckendes
Schauspiel.
Zum Abschluss eine Zeitrafferaufnahme der
grönländischen Mitternachtssonne:
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